31.03.2010 / Junge Welt

Dreischritt aus der Gewalt

»Die üble Geißel des Terrorismus«: Realität, Konstruktion, Abhilfe. Vortrag von Noam Chomsky anläßlich der Verleihung des Erich-Fromm-Preises 2010 an ihn durch die Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft in Stuttgart am 23. März 2010 (Teil II und Schluß)

Von Übersetzung aus dem amerikanischen ­Englisch: Jürgen Heiser
 
Wie Terror beseitigen? »Erstens müssen wir uns von unserer eigenen Täterrolle verabschieden. Zweitens müssen wir uns um die Ursachen von Konflikten kümmern. Drittens müssen wir einen Terrorakt wie eine Straftat behandeln.
Am vergangenen Dienstag, dem 110. Geburtstag des Psychoanalytikers Erich Fromm (1900–1980), wurde der Sprachwissenschaftler und politische Intellektuelle Noam Chomsky mit dem Erich-Fromm-Preis 2010 ausgezeichnet. Die Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft würdigte damit Chomskys akademisches Lebenswerk, vor allem aber »sein von öffentlichen Meinungen unabhängiges Urteil«. Wir dokumentieren die schriftliche Fassung von Chomskys Rede. Redaktionelle Anmerkungen erscheinen in eckigen Klammern.

Der Gegensatz zwischen den Feierlichkeiten im letzten November anläßlich des Sturzes der Tyrannei des Feindes1 und dem Stillschweigen über die Höhepunkte scheußlicher Grausamkeiten in unserem eigenen Bereich ist so kraß, daß man sich schon sehr anstrengen muß, ihn zu übersehen. Das wirft kein gutes Licht auf unsere moralische und geistige Kultur.

Das Gleiche trifft zu auf die retrospektiven Einschätzungen der Ära von [US-Präsident Ronald] Reagan. Die Mythologie von dem, was damals erreicht wurde, können wir beiseite lassen, auch wenn sie Kim Il-Sung sicher beeindruckt hätte. Was Reagan vollbrachte, hat sich praktisch in Nichts aufgelöst. Präsident Barack Obama würdigt ihn dennoch als »transformative Persönlichkeit«. Am namhaften Hoover Institute der Stanford University bezieht man sich auf Reagan als Riesen, der »das Land zu durchschreiten scheint, und der auf uns herabschaut wie ein warmherziger und freundlicher Geist«. Wenn wir die Hauptstadt Washington per Flugzeug erreichen, landen wir entweder auf dem Reagan International Airport oder, wenn uns das lieber ist, auf dem John Foster Dulles International Airport, womit ein weiterer prominenter Terroristenbefehlshaber geehrt wird, zu dessen Ruhmestaten es gehört, die demokratisch gewählten Regierungen in Iran und Guatemala gestürzt und anschließend den Terror- und Folterstaat des Schah von Persien und einige der schlimmsten Terrorstaaten Mittelamerikas errichtet zu haben. Die terroristischen Heldentaten von Washingtons guatemaltekischen Klienten erreichten in den 1980er Jahren im Hochland Guatemalas Ausmaße eines Völkermordes, während Reagan Ríos Montt, den schlimmsten Killer des Landes, als »einen Mann von großer persönlicher Integrität« pries, der sich »völlig der Demokratie gewidmet« habe, aber von Menschenrechtsorganisationen »mit falschen Anschuldigungen unfair behandelt« werde.

Ich habe über den internationalen Terrorismus geschrieben, seit Reagan 1981 den »Krieg gegen den Terror« erklärte. Dabei habe ich mich an die offiziellen Definitionen von »Terrorismus« gehalten, wie sie übereinstimmend in US-amerikanischen und britischen Gesetzen verankert und in Armeehandbüchern dargelegt sind. Nach einer knapp gehaltenen offiziellen Definition ist Terrorismus »der kalkulierte Einsatz von Gewalt oder die Drohung mit Gewalt, um Ziele zu erreichen, die politischer, religiöser oder ideologischer Natur sind (…) durch Einschüchterung, Zwang oder das Einflößen von Angst«. Alles, was ich bisher beschrieben habe, erfüllt diese Definition, aber noch einiges mehr fällt im technischen Sinne US-amerikanischer und britischer Gesetze in diese Kategorie des Terrorismus, nämlich der staatlich gelenkte internationale Terrorismus.

Genau aus diesem Grund sind die offiziellen Definitionen jedoch unbrauchbar. Sie machen den entscheidenden Unterschied nicht deutlich: Diese Definition des »Terrorismus« muß irgendwie so entworfen werden, daß zwar ihr Terrorismus gegen uns enthalten ist, unser Terrorismus gegen sie, der oftmals viel extremer ist, aber davon ausgeschlossen bleibt. Die Aufgabe, eine umfassendere Definition zu entwickeln, ist eine echte Herausforderung. Entsprechend hat es seit den 1980er Jahren viele wissenschaftliche Konferenzen, akademische Publikationen und internationale Symposien gegeben, die sich der Aufgabe widmeten, den Begriff »Terrorismus« zu definieren. Im öffentlichen Diskurs tritt dieses Problem nicht auf. Gebildete Kreise haben die offizielle Bedeutung des Begriffs »Terrorismus« verinnerlicht, welcher zur Rechtfertigung staatlichen Handelns und zur Kontrolle der einheimischen Bevölkerungen dient. Das Abweichen von dieser Maßgabe wird üblicherweise ignoriert; wird es jedoch bemerkt, löst man eindrucksvolle Wutausbrüche aus.

Putsch in Lateinamerika

Halten wir uns also einfach an die Konventionen und beschränken unsere Aufmerksamkeit auf den Terror, den sie gegen uns richten. Das ist nicht zum Lachen und erreicht manchmal ein extremes Niveau. Das wohl ungeheuerlichste Einzelverbrechen des internationalen Terrorismus der Neuzeit war die Zerstörung des World Trade Centers am 11. September [2001]. Heute nennt es jeder schlicht »9/11«. Fast 3000 Menschen kamen bei diesem »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« um, ausgeführt mit »niederträchtiger Boshaftigkeit und unglaublicher Grausamkeit«, wie [der britische Nahost-Korrespondent] Robert Fisk schrieb. Man ist sich weithin einig, daß »9/11« die Welt verändert hat.

So fürchterlich das Verbrechen auch war, ist dennoch eine Steigerung vorstellbar. Nehmen wir einmal an, Al-Qaida wäre durch eine Supermacht unterstützt worden, die die Absicht hegte, die Regierung der Vereinigten Staaten zu stürzen. Nehmen wir an, der Angriff wäre erfolgreich gewesen, Al-Qaida hätte das Weiße Haus bombardiert, den Präsidenten getötet und eine brutale Militärdiktatur installiert, die 50000 bis 100000 Menschen umgebracht und 700000 brutal gefoltert hätte. Sodann hätte man in Washington eine Schaltzentrale des Terrors und der Subversion aufgebaut, um von dort aus Mordanschläge in aller Welt zu verüben und um dazu beizutragen, im Ausland »Nationale Sicherheitsstaaten« zu errichten, in denen nicht weniger hemmungslos gefoltert und gemordet würde. Nehmen wir weiter an, der Diktator hätte sich Wirtschaftsberater ins Land geholt, die innerhalb weniger Jahre die einheimische Wirtschaft in die schlimmste Katastrophe ihrer Geschichte getrieben hätten, während ihre stolzen Mentoren Nobelpreise und weitere Auszeichnungen einheimsten. Das alles wäre weitaus entsetzlicher gewesen als »9/11«.

Und wir alle sollten eigentlich wissen, daß wir uns dieses Szenario nicht ausdenken müssen, weil es in Wirklichkeit passiert ist: in Chile, an einem Tag, den die Lateinamerikaner mitunter »den ersten 9/11« nennen, weil es [der Militärputsch] am 11. September 1973 geschah. Ich habe in meiner Schilderung nur eine einzige Veränderung vorgenommen, indem ich die Bevölkerungszahlen [Chiles und der USA] in Relation zueinander gesetzt und die Opferzahlen hochgerechnet habe, um zu einem angemessenen Vergleich zu kommen. Der erste »9/11« hat jedoch die Geschichte aus guten Gründen nicht verändert. Die Ereignisse waren zu normal. Tatsächlich war die Errichtung des Pinochet-Regimes nur ein Ereignis im Rahmen der Plage, die 1964 mit dem Militärputsch in Brasilien begonnen hatte, sich dann mit ähnlichen oder noch schlimmeren Schrecken auf andere Länder ausbreitete und schließlich in den 1980er Jahren unter Reagan Mittelamerika erreichte. In Übereinstimmung mit seiner Grundhaltung zur staatlichen Gewalt stand für Reagan das Regime der argentinischen Generäle in Lateinamerika an erster Stelle. Die argentinische Militärjunta war unter allen Putschregimen mit Abstand das grausamste und befand sich im Einklang mit seiner Einstellung gegenüber staatlicher Gewalt.

Politisch motivierte Folter

Lassen wir all diese unangenehmen Realitäten einmal beiseite und wenden uns wieder der konventionellen Betrachtung im Rahmen der Doktrin der offiziellen Definition von »Terrorismus« zu. Stellen wir uns also vor, der Krieg gegen den Terror, wie ihn George W. Bush am 11. September 2001 erneut erklärt hat, sei tatsächlich darauf ausgerichtet gewesen, der Plage des internationalen Terrorismus ein Ende zu bereiten. Zur Erreichung dieses Zieles wären vernünftige Schritte möglich gewesen. Die mörderischen Anschläge von »9/11« wurden ja selbst aus den Reihen der Dschihad-Bewegung aufs schärfste verurteilt. Ein möglicher konstruktiver Schritt wäre gewesen, Al-Qaida zu isolieren und die Opposition gegen Al-Qaida zu einen bis hin zu jenen, die sich von diesem Projekt angezogen fühlten. Aber nichts dergleichen scheint je auch nur in Erwägung gezogen worden zu sein. Statt dessen trafen die Bush-Regierung und ihre Verbündeten Entscheidungen, die einen Einigungsprozeß der Dschihad-Bewegung zur Unterstützung [Osama] Bin Ladens und die Mobilisierung weiterer Kräfte für seine Sache noch begünstigten, indem sie seine Behauptung, der Westen befinde sich im Krieg mit dem Islam, bestätigten: durch den Einmarsch zuerst in Afghanistan, dann in Irak, durch Folter an und Verlegung von Gefangenen in ausländische Geheimgefängnisse und durch den generellen Einsatz von Gewalt zum Zwecke der Sicherung der Staatsmacht. Aus gutem Grund kommt Michael Scheuer, der seit Jahren die Aufgabe hatte, Bin Laden im Auftrag der CIA aufzuspüren, zu dem Schluß, daß »die Vereinigten Staaten von Amerika der einzig verbliebene unentbehrliche Verbündete von Bin Laden sind«.

Denselben Schluß zog US-Major Matthew Alexander, unter den Vernehmungsoffizieren vielleicht der am meisten respektierte, der einer Quelle die Informationen entlockte, durch die man Abu Mussab Al-Sarkawi, den Kopf der Al-Qaida in Irak, festsetzen konnte. Alexander hat nur Verachtung für brutale Vernehmungsmethoden übrig, wie sie die Bush-Regierung verlangte. Wie seine Vernehmungskollegen vom FBI, so glaubt auch er, daß die von [Verteidigungsminister Donald] Rumsfeld und [Vizepräsident Richard] Cheney bevorzugte Folter zu keinen nützlichen Informationen führt, im Gegensatz zu humaneren Vernehmungsmethoden, mit denen man sogar einige Zielpersonen erfolgreich umdrehen und sie zu verläßlichen Informanten und Kollaborateuren machen konnte. Alexander stellt Indonesien wegen der dort üblichen zivilisierten Vernehmungsmethoden heraus und drängt die USA dazu, dem Beispiel dieses Landes zu folgen. Die von Rumsfeld und Cheney bevorzugte Folter verhindert nicht nur nützliche Informationen, sie züchtet vielmehr neue Terroristen heran.

In Hunderten Verhören mußte Alexander feststellen, daß viele aus dem Ausland stammende Kämpfer in Reaktion auf die Mißhandlungen an Gefangenen in Abu Ghraib und Guantánamo nach Irak kamen und daß sie und ihre einheimischen Verbündeten aus den gleichen Gründen mit Selbstmordattentaten und anderen terroristischen Aktionen begannen. Alexander ist der Meinung, daß der Einsatz von Folter und Gewalt wahrscheinlich mehr US-Soldaten das Leben gekostet hat, als die terroristischen Anschläge des »9/11« insgesamt an Opfern forderten. Die signifikanteste Offenbarung in freigegebenen Folterprotokollen ist die, daß die Verhörenden unter »erbarmungslosem Druck« seitens Cheney und Rumsfeld standen, endlich zu härteren Methoden zu greifen, um Beweise zu finden für die phantastische Behauptung, Saddam Hussein kooperiere mit Al-Qaida.

Der »gute Krieg« in Afghanistan

Der Überfall auf Afghanistan im Oktober 2001 wird als »guter Krieg« bezeichnet, als gerechtfertigter Akt der Selbstverteidigung mit dem edlen Ziel, die Menschenrechte vor den bösen Taliban zu schützen. Mit diesem zum allgemeingültigen Anspruch erhobenen Argument gibt es allerdings einige Probleme. Zum einen war es zu Beginn nicht das erklärte Ziel, die Taliban zu beseitigen. Bush informierte vielmehr das Volk Afghanistans, das Bombardement werde solange fortgesetzt, bis die Taliban Bin Laden an die USA auslieferten, was sie vielleicht auch getan hätten, wenn die USA auf ihre Forderung eingegangen wären, irgendeinen Beweis seiner Mitverantwortung für »9/11« zu liefern. Diese Forderung wurde aus guten Gründen verächtlich zurückgewiesen. Wie der FBI-Chef acht Monate später einräumen mußte, hatten sie nach den aufwendigsten internationalen Ermittlungen der Geschichte immer noch keinerlei Beweise dafür. Und sie hatten ganz sicherlich auch im Oktober [2001] über keine derartigen Beweise verfügt. Sie hatten nichts in der Hand, das FBI »glaubte« lediglich, die Anschläge seien in Afghanistan ausgeheckt und dann in den Emiraten am Golf und in Deutschland umgesetzt worden.

Drei Wochen nach Beginn der Bombardierung [Afghanistans] verlagerten sich die Kriegsziele auf den Sturz des Taliban-Regimes. Der britische Admiral Michael Boyce verkündete, das Bombardement werde fortgesetzt, bis »die Bevölkerung des Landes (…) einen Wechsel der Führung erreicht hat« – ein Musterbeispiel aus dem Lehrbuch des internationalen Terrorismus.

Es stimmt auch nicht, daß es keine Einwände gegen den Angriff gegeben hätte. Die internationalen Hilfsorganisationen haben praktisch einstimmig und lautstark Einwände erhoben, weil mit dem Krieg all ihre so dringend benötigten Hilfsprogramme beendet waren. Damalige Schätzungen besagten, daß das Überleben von fünf Millionen Menschen von dieser Hilfe abhing und daß noch einmal 2,5 Millionen gefährdet waren zu verhungern, wenn die USA und England angreifen würden. Die Bombardierung war deshalb ein Beispiel absolut kriminellen Handelns, egal ob die befürchteten Folgen eintraten oder nicht.

Außerdem wurde das Bombardement von führenden Afghanen, die in Opposition waren gegen die Taliban, aufs heftigste verurteilt, unter ihnen auch der von den USA geschätzte Abdul Haq, den Präsident Hamid Karsai nach dem Krieg als Märtyrer pries. Unmittelbar bevor er nach Afghanistan kam und [von den Taliban] ergriffen und getötet wurde, hatte er das laufende Bombardement verurteilt und die USA kritisiert, weil sie es ablehnten, seine Bemühungen und die von anderen zu unterstützen, »eine Revolte innerhalb der Taliban anzuzetteln«. Das Bombardement sei »ein herber Rückschlag für diese Bemühungen«, sagte Abdul Haq, erläuterte seine Absichten näher und appellierte an die USA, ihnen finanziell und durch andere Arten der Unterstützung zu helfen, statt ihre Bemühungen mit Bomben zu zerschlagen. Die USA, so Haq, »versuchen, ihre Muskeln spielen zu lassen, einen Sieg zu erringen und die ganze Welt einzuschüchtern. Sie scheren sich nicht um das Leiden der Afghanen oder darum, wie viele Menschenleben wir dabei verlieren«.

Kurz darauf versammelten sich 1000 afghanische Anführer im pakistanischen Peshawar, wo ein Teil von ihnen im Exil lebte, andere kamen direkt aus Afghanistan. Aber alle waren sich darin einig, das Taliban-Regime stürzen zu wollen. Die Presse schrieb: »Es war eine der seltenen Manifestationen der Einheit unter den Stammesführern, Islamwissenschaftlern, Vertretern politischer Fraktionen und früheren Guerillakommandeuren.« Sie stimmten in vielen Fragen nicht überein, waren sich aber darin einig, »die USA zu ermahnen, die Luftangriffe einzustellen«, und an die internationalen Medien zu appellieren, ein Ende der »Bombardierung unschuldiger Menschen« zu fordern. Sie baten dringend darum, andere Mittel einzusetzen, um das verhaßte Taliban-Regime zu stürzen. Ein Ziel, das sie für erreichbar hielten, ohne daß es weitere Tote und Zerstörungen geben mußte. Die Bombardierungen wurden auch von der prominenten Frauenorganisation RAWA heftigst verurteilt, was aber erst später Beachtung fand, als es ideologisch dienlich schien, (kurzzeitig) Besorgnis über das Los der Frauen in Afghanistan zum Ausdruck zu bringen.

Kurz gesagt: Dieser unbestreitbar »gute Krieg« sieht schon gar nicht mehr so gut aus, wenn wir uns näher mit den unangenehmen Fakten auseinandersetzen.

Wurzeln des Terros bekämpfen

Es ist sicher nicht notwendig, jetzt länger auf den Einmarsch in Irak einzugehen. Weil man sich ausschließlich auf die Auswirkungen des Dschihad-Terrors konzentrierte, stand zu erwarten, daß die Invasion zu einem Anwachsen des Terrorismus führen würde. Genau das geschah auch, allerdings in einem Ausmaß, das alle Erwatungen übertraf. Nach den Analysen von Terrorismusexperten in den USA stieg der Terror um das Siebenfache an. Nun könnte man fragen, warum die Angriffe dann überhaupt unternommen wurden, aber es ist eigentlich ganz klar, daß der Kampf gegen die üble Geißel des Terrorismus dabei nicht die höchste Priorität hatte, wenn er überhaupt erwogen wurde.

Wäre es darum gegangen, dann hätte es Optionen gegeben, denen man hätte folgen können. Einige habe ich bereits erwähnt. Ganz allgemein hätten die Amerikaner und Engländer die angemessenen Verfahren einsetzen können, wie sie im Umgang mit Schwerstverbrechen üblich sind: Die Täter ermitteln, Verdächtige festnehmen (falls nötig, mit internationaler Unterstützung, die man leicht bekommen hätte) und ihnen dann einen fairen Prozeß machen. Außerdem sollte man den Wurzeln des Terrorismus mehr Aufmerksamkeit schenken. Das kann äußerst effektiv sein, wie die USA und England gerade in Nordirland erfahren konnten. Der Terror der IRA war eine sehr ernste Angelegenheit. Solange London mit Gewalt, Terror und Folter reagierte, war die britische Regierung selbst »der unentbehrliche Verbündete« der eher gewaltorientierten Elemente innerhalb der IRA, und der Terror eskalierte ständig weiter. Ende der 1990er Jahre fing London dann an, sich um die Mißstände zu kümmern, die die Wurzeln des Terrors waren, und sich der legitimen Anliegen anzunehmen – was völlig unabhängig vom Terror das richtige Handeln war. Innerhalb weniger Jahre gab es praktisch keinen Terror mehr. Ich war 1993 in Belfast. Es war ein Kriegsgebiet. Und ich war im vorigen Herbst wieder da. Man spürt Spannungen, aber sie haben jetzt einen Grad, der für einen Besucher kaum zu spüren ist. Man kann wichtige Lehren aus der Situation dort ziehen. Aber auch ohne diese Erfahrung sollten wir wissen, daß Gewalt neue Gewalt erzeugt. Sympathie und Verständnis für berechtigte Sorgen hingegen können die Leidenschaften beruhigen und Kooperation und Empathie erzeugen.

Wenn wir also ernsthaft die Plage des Terrorismus beenden wollen, dann wissen wir, wie das geht. Erstens müssen wir uns von unserer eigenen Täterrolle verabschieden. Schon das allein würde beträchtliche Auswirkungen haben. Zweitens müssen wir uns um die Ursachen kümmern, die typischerweise den Hintergrund von Konflikten bilden, und wenn die Anliegen legitim sind, müssen wir uns mit ihnen befassen. Drittens: Wenn sich ein Terrorakt ereignet, müssen wir ihn wie eine Straftat behandeln, die Verdächtigen ermitteln und festnehmen und sie einem ordentlichen Gerichtsverfahren überantworten. Das funktioniert tatsächlich. Im Gegensatz dazu erhöhen die heute eingesetzten Techniken die Terrorgefahr. Beweise gibt es dazu wirklich genug, und sie decken sich mit weiteren Erkenntnissen.

Es ist ja das nicht der einzige Fall, bei dem gute Ansätze, die eine ernsthafte Bedrohung verringern könnten, systematisch mißachtet werden und statt dessen untaugliche Herangehensweisen zur Anwendung kommen. Der »Krieg gegen die Drogen« könnte hier als weiteres Beispiel dienen. In über 40 Jahren ist es in diesem Krieg noch nicht einmal gelungen, den Drogenkonsum auch nur einzuschränken oder den Preis der Drogen im Straßenverkauf zu verringern. In zahlreichen Studien, sogar solchen, die die US-Regierung in Auftrag gegeben hat, wurde nachgewiesen, daß Prävention und Therapie die bei weitem kostengünstigsten Methoden sind. Aber dieser Ansatz wird in der Regierungspolitik beständig außer Acht gelassen und statt dessen lieber auf teure Gewaltmaßnahmen gesetzt, die keinerlei Einfluß haben auf den Drogenkonsum, aber beständig jede Menge andere Konsequenzen nach sich ziehen.

Fälle wie diese lassen nur einen einzigen vernünftigen Schluß zu, nämlich den, daß die erklärten Ziele nicht die wirklichen Ziele sind, und wenn wir über letztere etwas erfahren wollen, dann müssen wir einen auch auf der Ebene des Rechts üblichen Ansatz wählen: sich auf vorhersehbare Ereignisse als Beweis für die Absichten stützen. Ich glaube, daß dieser Ansatz zu sehr plausiblen Schlußfolgerungen führen kann sowohl für den »Krieg gegen Drogen«, für den »Krieg gegen den Terror« als auch für viele andere. Das wäre jedoch eine Aufgabe für einen anderen Tag.

1 Chomsky bezieht sich hier auf den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in Europa vor 20 Jahren
 
Teil I erschien in der gestrigen Ausgabe der Jungen Welt

Quelle: http://www.jungewelt.de/2010/03-31/025.php