Wie Terror beseitigen? »Erstens müssen wir
uns von unserer eigenen Täterrolle
verabschieden. Zweitens müssen wir uns um
die Ursachen von Konflikten kümmern.
Drittens müssen wir einen Terrorakt wie eine
Straftat behandeln.
Foto: Walter M. Rammler
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Am vergangenen Dienstag, dem 110.
Geburtstag des Psychoanalytikers Erich Fromm (1900–1980),
wurde der Sprachwissenschaftler und politische
Intellektuelle Noam Chomsky mit dem Erich-Fromm-Preis 2010
ausgezeichnet. Die Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft
würdigte damit Chomskys akademisches Lebenswerk, vor allem
aber »sein von öffentlichen Meinungen unabhängiges Urteil«.
Wir dokumentieren die schriftliche Fassung von Chomskys
Rede. Redaktionelle Anmerkungen erscheinen in eckigen
Klammern.
Der Gegensatz zwischen den Feierlichkeiten im letzten
November anläßlich des Sturzes der Tyrannei des Feindes1 und
dem Stillschweigen über die Höhepunkte scheußlicher
Grausamkeiten in unserem eigenen Bereich ist so kraß, daß
man sich schon sehr anstrengen muß, ihn zu übersehen. Das
wirft kein gutes Licht auf unsere moralische und geistige
Kultur.
Das Gleiche trifft zu auf die retrospektiven Einschätzungen
der Ära von [US-Präsident Ronald] Reagan. Die Mythologie von
dem, was damals erreicht wurde, können wir beiseite lassen,
auch wenn sie Kim Il-Sung sicher beeindruckt hätte. Was
Reagan vollbrachte, hat sich praktisch in Nichts aufgelöst.
Präsident Barack Obama würdigt ihn dennoch als »transformative
Persönlichkeit«. Am namhaften Hoover Institute der Stanford
University bezieht man sich auf Reagan als Riesen, der »das
Land zu durchschreiten scheint, und der auf uns herabschaut
wie ein warmherziger und freundlicher Geist«. Wenn wir die
Hauptstadt Washington per Flugzeug erreichen, landen wir
entweder auf dem Reagan International Airport oder, wenn uns
das lieber ist, auf dem John Foster Dulles International
Airport, womit ein weiterer prominenter
Terroristenbefehlshaber geehrt wird, zu dessen Ruhmestaten
es gehört, die demokratisch gewählten Regierungen in Iran
und Guatemala gestürzt und anschließend den Terror- und
Folterstaat des Schah von Persien und einige der schlimmsten
Terrorstaaten Mittelamerikas errichtet zu haben. Die
terroristischen Heldentaten von Washingtons
guatemaltekischen Klienten erreichten in den 1980er Jahren
im Hochland Guatemalas Ausmaße eines Völkermordes, während
Reagan Ríos Montt, den schlimmsten Killer des Landes, als
»einen Mann von großer persönlicher Integrität« pries, der
sich »völlig der Demokratie gewidmet« habe, aber von
Menschenrechtsorganisationen »mit falschen Anschuldigungen
unfair behandelt« werde.
Ich habe über den internationalen Terrorismus geschrieben,
seit Reagan 1981 den »Krieg gegen den Terror« erklärte.
Dabei habe ich mich an die offiziellen Definitionen von
»Terrorismus« gehalten, wie sie übereinstimmend in
US-amerikanischen und britischen Gesetzen verankert und in
Armeehandbüchern dargelegt sind. Nach einer knapp gehaltenen
offiziellen Definition ist Terrorismus »der kalkulierte
Einsatz von Gewalt oder die Drohung mit Gewalt, um Ziele zu
erreichen, die politischer, religiöser oder ideologischer
Natur sind (…) durch Einschüchterung, Zwang oder das
Einflößen von Angst«. Alles, was ich bisher beschrieben
habe, erfüllt diese Definition, aber noch einiges mehr fällt
im technischen Sinne US-amerikanischer und britischer
Gesetze in diese Kategorie des Terrorismus, nämlich der
staatlich gelenkte internationale Terrorismus.
Genau aus diesem Grund sind die offiziellen Definitionen
jedoch unbrauchbar. Sie machen den entscheidenden
Unterschied nicht deutlich: Diese Definition des
»Terrorismus« muß irgendwie so entworfen werden, daß zwar
ihr Terrorismus gegen uns enthalten ist, unser Terrorismus
gegen sie, der oftmals viel extremer ist, aber davon
ausgeschlossen bleibt. Die Aufgabe, eine umfassendere
Definition zu entwickeln, ist eine echte Herausforderung.
Entsprechend hat es seit den 1980er Jahren viele
wissenschaftliche Konferenzen, akademische Publikationen und
internationale Symposien gegeben, die sich der Aufgabe
widmeten, den Begriff »Terrorismus« zu definieren. Im
öffentlichen Diskurs tritt dieses Problem nicht auf.
Gebildete Kreise haben die offizielle Bedeutung des Begriffs
»Terrorismus« verinnerlicht, welcher zur Rechtfertigung
staatlichen Handelns und zur Kontrolle der einheimischen
Bevölkerungen dient. Das Abweichen von dieser Maßgabe wird
üblicherweise ignoriert; wird es jedoch bemerkt, löst man
eindrucksvolle Wutausbrüche aus.
Putsch in Lateinamerika
Halten wir uns also einfach an die Konventionen und
beschränken unsere Aufmerksamkeit auf den Terror, den sie
gegen uns richten. Das ist nicht zum Lachen und erreicht
manchmal ein extremes Niveau. Das wohl ungeheuerlichste
Einzelverbrechen des internationalen Terrorismus der Neuzeit
war die Zerstörung des World Trade Centers am 11. September
[2001]. Heute nennt es jeder schlicht »9/11«. Fast 3000
Menschen kamen bei diesem »Verbrechen gegen die
Menschlichkeit« um, ausgeführt mit »niederträchtiger
Boshaftigkeit und unglaublicher Grausamkeit«, wie [der
britische Nahost-Korrespondent] Robert Fisk schrieb. Man ist
sich weithin einig, daß »9/11« die Welt verändert hat.
So fürchterlich das Verbrechen auch war, ist dennoch eine
Steigerung vorstellbar. Nehmen wir einmal an, Al-Qaida wäre
durch eine Supermacht unterstützt worden, die die Absicht
hegte, die Regierung der Vereinigten Staaten zu stürzen.
Nehmen wir an, der Angriff wäre erfolgreich gewesen,
Al-Qaida hätte das Weiße Haus bombardiert, den Präsidenten
getötet und eine brutale Militärdiktatur installiert, die
50000 bis 100000 Menschen umgebracht und 700000 brutal
gefoltert hätte. Sodann hätte man in Washington eine
Schaltzentrale des Terrors und der Subversion aufgebaut, um
von dort aus Mordanschläge in aller Welt zu verüben und um
dazu beizutragen, im Ausland »Nationale Sicherheitsstaaten«
zu errichten, in denen nicht weniger hemmungslos gefoltert
und gemordet würde. Nehmen wir weiter an, der Diktator hätte
sich Wirtschaftsberater ins Land geholt, die innerhalb
weniger Jahre die einheimische Wirtschaft in die schlimmste
Katastrophe ihrer Geschichte getrieben hätten, während ihre
stolzen Mentoren Nobelpreise und weitere Auszeichnungen
einheimsten. Das alles wäre weitaus entsetzlicher gewesen
als »9/11«.
Und wir alle sollten eigentlich wissen, daß wir uns dieses
Szenario nicht ausdenken müssen, weil es in Wirklichkeit
passiert ist: in Chile, an einem Tag, den die
Lateinamerikaner mitunter »den ersten 9/11« nennen, weil es
[der Militärputsch] am 11. September 1973 geschah. Ich habe
in meiner Schilderung nur eine einzige Veränderung
vorgenommen, indem ich die Bevölkerungszahlen [Chiles und
der USA] in Relation zueinander gesetzt und die Opferzahlen
hochgerechnet habe, um zu einem angemessenen Vergleich zu
kommen. Der erste »9/11« hat jedoch die Geschichte aus guten
Gründen nicht verändert. Die Ereignisse waren zu normal.
Tatsächlich war die Errichtung des Pinochet-Regimes nur ein
Ereignis im Rahmen der Plage, die 1964 mit dem Militärputsch
in Brasilien begonnen hatte, sich dann mit ähnlichen oder
noch schlimmeren Schrecken auf andere Länder ausbreitete und
schließlich in den 1980er Jahren unter Reagan Mittelamerika
erreichte. In Übereinstimmung mit seiner Grundhaltung zur
staatlichen Gewalt stand für Reagan das Regime der
argentinischen Generäle in Lateinamerika an erster Stelle.
Die argentinische Militärjunta war unter allen Putschregimen
mit Abstand das grausamste und befand sich im Einklang mit
seiner Einstellung gegenüber staatlicher Gewalt.
Politisch motivierte Folter
Lassen wir all diese unangenehmen Realitäten einmal beiseite
und wenden uns wieder der konventionellen Betrachtung im
Rahmen der Doktrin der offiziellen Definition von
»Terrorismus« zu. Stellen wir uns also vor, der Krieg gegen
den Terror, wie ihn George W. Bush am 11. September 2001
erneut erklärt hat, sei tatsächlich darauf ausgerichtet
gewesen, der Plage des internationalen Terrorismus ein Ende
zu bereiten. Zur Erreichung dieses Zieles wären vernünftige
Schritte möglich gewesen. Die mörderischen Anschläge von
»9/11« wurden ja selbst aus den Reihen der Dschihad-Bewegung
aufs schärfste verurteilt. Ein möglicher konstruktiver
Schritt wäre gewesen, Al-Qaida zu isolieren und die
Opposition gegen Al-Qaida zu einen bis hin zu jenen, die
sich von diesem Projekt angezogen fühlten. Aber nichts
dergleichen scheint je auch nur in Erwägung gezogen worden
zu sein. Statt dessen trafen die Bush-Regierung und ihre
Verbündeten Entscheidungen, die einen Einigungsprozeß der
Dschihad-Bewegung zur Unterstützung [Osama] Bin Ladens und
die Mobilisierung weiterer Kräfte für seine Sache noch
begünstigten, indem sie seine Behauptung, der Westen befinde
sich im Krieg mit dem Islam, bestätigten: durch den
Einmarsch zuerst in Afghanistan, dann in Irak, durch Folter
an und Verlegung von Gefangenen in ausländische
Geheimgefängnisse und durch den generellen Einsatz von
Gewalt zum Zwecke der Sicherung der Staatsmacht. Aus gutem
Grund kommt Michael Scheuer, der seit Jahren die Aufgabe
hatte, Bin Laden im Auftrag der CIA aufzuspüren, zu dem
Schluß, daß »die Vereinigten Staaten von Amerika der einzig
verbliebene unentbehrliche Verbündete von Bin Laden sind«.
Denselben Schluß zog US-Major Matthew Alexander, unter den
Vernehmungsoffizieren vielleicht der am meisten
respektierte, der einer Quelle die Informationen entlockte,
durch die man Abu Mussab Al-Sarkawi, den Kopf der Al-Qaida
in Irak, festsetzen konnte. Alexander hat nur Verachtung für
brutale Vernehmungsmethoden übrig, wie sie die
Bush-Regierung verlangte. Wie seine Vernehmungskollegen vom
FBI, so glaubt auch er, daß die von [Verteidigungsminister
Donald] Rumsfeld und [Vizepräsident Richard] Cheney
bevorzugte Folter zu keinen nützlichen Informationen führt,
im Gegensatz zu humaneren Vernehmungsmethoden, mit denen man
sogar einige Zielpersonen erfolgreich umdrehen und sie zu
verläßlichen Informanten und Kollaborateuren machen konnte.
Alexander stellt Indonesien wegen der dort üblichen
zivilisierten Vernehmungsmethoden heraus und drängt die USA
dazu, dem Beispiel dieses Landes zu folgen. Die von Rumsfeld
und Cheney bevorzugte Folter verhindert nicht nur nützliche
Informationen, sie züchtet vielmehr neue Terroristen heran.
In Hunderten Verhören mußte Alexander feststellen, daß viele
aus dem Ausland stammende Kämpfer in Reaktion auf die
Mißhandlungen an Gefangenen in Abu Ghraib und Guantánamo
nach Irak kamen und daß sie und ihre einheimischen
Verbündeten aus den gleichen Gründen mit
Selbstmordattentaten und anderen terroristischen Aktionen
begannen. Alexander ist der Meinung, daß der Einsatz von
Folter und Gewalt wahrscheinlich mehr US-Soldaten das Leben
gekostet hat, als die terroristischen Anschläge des »9/11«
insgesamt an Opfern forderten. Die signifikanteste
Offenbarung in freigegebenen Folterprotokollen ist die, daß
die Verhörenden unter »erbarmungslosem Druck« seitens Cheney
und Rumsfeld standen, endlich zu härteren Methoden zu
greifen, um Beweise zu finden für die phantastische
Behauptung, Saddam Hussein kooperiere mit Al-Qaida.
Der »gute Krieg« in Afghanistan
Der Überfall auf Afghanistan im Oktober 2001 wird als »guter
Krieg« bezeichnet, als gerechtfertigter Akt der
Selbstverteidigung mit dem edlen Ziel, die Menschenrechte
vor den bösen Taliban zu schützen. Mit diesem zum
allgemeingültigen Anspruch erhobenen Argument gibt es
allerdings einige Probleme. Zum einen war es zu Beginn nicht
das erklärte Ziel, die Taliban zu beseitigen. Bush
informierte vielmehr das Volk Afghanistans, das Bombardement
werde solange fortgesetzt, bis die Taliban Bin Laden an die
USA auslieferten, was sie vielleicht auch getan hätten, wenn
die USA auf ihre Forderung eingegangen wären, irgendeinen
Beweis seiner Mitverantwortung für »9/11« zu liefern. Diese
Forderung wurde aus guten Gründen verächtlich
zurückgewiesen. Wie der FBI-Chef acht Monate später
einräumen mußte, hatten sie nach den aufwendigsten
internationalen Ermittlungen der Geschichte immer noch
keinerlei Beweise dafür. Und sie hatten ganz sicherlich auch
im Oktober [2001] über keine derartigen Beweise verfügt. Sie
hatten nichts in der Hand, das FBI »glaubte« lediglich, die
Anschläge seien in Afghanistan ausgeheckt und dann in den
Emiraten am Golf und in Deutschland umgesetzt worden.
Drei Wochen nach Beginn der Bombardierung [Afghanistans]
verlagerten sich die Kriegsziele auf den Sturz des
Taliban-Regimes. Der britische Admiral Michael Boyce
verkündete, das Bombardement werde fortgesetzt, bis »die
Bevölkerung des Landes (…) einen Wechsel der Führung
erreicht hat« – ein Musterbeispiel aus dem Lehrbuch des
internationalen Terrorismus.
Es stimmt auch nicht, daß es keine Einwände gegen den
Angriff gegeben hätte. Die internationalen
Hilfsorganisationen haben praktisch einstimmig und lautstark
Einwände erhoben, weil mit dem Krieg all ihre so dringend
benötigten Hilfsprogramme beendet waren. Damalige
Schätzungen besagten, daß das Überleben von fünf Millionen
Menschen von dieser Hilfe abhing und daß noch einmal 2,5
Millionen gefährdet waren zu verhungern, wenn die USA und
England angreifen würden. Die Bombardierung war deshalb ein
Beispiel absolut kriminellen Handelns, egal ob die
befürchteten Folgen eintraten oder nicht.
Außerdem wurde das Bombardement von führenden Afghanen, die
in Opposition waren gegen die Taliban, aufs heftigste
verurteilt, unter ihnen auch der von den USA geschätzte
Abdul Haq, den Präsident Hamid Karsai nach dem Krieg als
Märtyrer pries. Unmittelbar bevor er nach Afghanistan kam
und [von den Taliban] ergriffen und getötet wurde, hatte er
das laufende Bombardement verurteilt und die USA kritisiert,
weil sie es ablehnten, seine Bemühungen und die von anderen
zu unterstützen, »eine Revolte innerhalb der Taliban
anzuzetteln«. Das Bombardement sei »ein herber Rückschlag
für diese Bemühungen«, sagte Abdul Haq, erläuterte seine
Absichten näher und appellierte an die USA, ihnen finanziell
und durch andere Arten der Unterstützung zu helfen, statt
ihre Bemühungen mit Bomben zu zerschlagen. Die USA, so Haq,
»versuchen, ihre Muskeln spielen zu lassen, einen Sieg zu
erringen und die ganze Welt einzuschüchtern. Sie scheren
sich nicht um das Leiden der Afghanen oder darum, wie viele
Menschenleben wir dabei verlieren«.
Kurz darauf versammelten sich 1000 afghanische Anführer im
pakistanischen Peshawar, wo ein Teil von ihnen im Exil
lebte, andere kamen direkt aus Afghanistan. Aber alle waren
sich darin einig, das Taliban-Regime stürzen zu wollen. Die
Presse schrieb: »Es war eine der seltenen Manifestationen
der Einheit unter den Stammesführern, Islamwissenschaftlern,
Vertretern politischer Fraktionen und früheren
Guerillakommandeuren.« Sie stimmten in vielen Fragen nicht
überein, waren sich aber darin einig, »die USA zu ermahnen,
die Luftangriffe einzustellen«, und an die internationalen
Medien zu appellieren, ein Ende der »Bombardierung
unschuldiger Menschen« zu fordern. Sie baten dringend darum,
andere Mittel einzusetzen, um das verhaßte Taliban-Regime zu
stürzen. Ein Ziel, das sie für erreichbar hielten, ohne daß
es weitere Tote und Zerstörungen geben mußte. Die
Bombardierungen wurden auch von der prominenten
Frauenorganisation RAWA heftigst verurteilt, was aber erst
später Beachtung fand, als es ideologisch dienlich schien,
(kurzzeitig) Besorgnis über das Los der Frauen in
Afghanistan zum Ausdruck zu bringen.
Kurz gesagt: Dieser unbestreitbar »gute Krieg« sieht schon
gar nicht mehr so gut aus, wenn wir uns näher mit den
unangenehmen Fakten auseinandersetzen.
Wurzeln des Terros bekämpfen
Es ist sicher nicht notwendig, jetzt länger auf den
Einmarsch in Irak einzugehen. Weil man sich ausschließlich
auf die Auswirkungen des Dschihad-Terrors konzentrierte,
stand zu erwarten, daß die Invasion zu einem Anwachsen des
Terrorismus führen würde. Genau das geschah auch, allerdings
in einem Ausmaß, das alle Erwatungen übertraf. Nach den
Analysen von Terrorismusexperten in den USA stieg der Terror
um das Siebenfache an. Nun könnte man fragen, warum die
Angriffe dann überhaupt unternommen wurden, aber es ist
eigentlich ganz klar, daß der Kampf gegen die üble Geißel
des Terrorismus dabei nicht die höchste Priorität hatte,
wenn er überhaupt erwogen wurde.
Wäre es darum gegangen, dann hätte es Optionen gegeben,
denen man hätte folgen können. Einige habe ich bereits
erwähnt. Ganz allgemein hätten die Amerikaner und Engländer
die angemessenen Verfahren einsetzen können, wie sie im
Umgang mit Schwerstverbrechen üblich sind: Die Täter
ermitteln, Verdächtige festnehmen (falls nötig, mit
internationaler Unterstützung, die man leicht bekommen
hätte) und ihnen dann einen fairen Prozeß machen. Außerdem
sollte man den Wurzeln des Terrorismus mehr Aufmerksamkeit
schenken. Das kann äußerst effektiv sein, wie die USA und
England gerade in Nordirland erfahren konnten. Der Terror
der IRA war eine sehr ernste Angelegenheit. Solange London
mit Gewalt, Terror und Folter reagierte, war die britische
Regierung selbst »der unentbehrliche Verbündete« der eher
gewaltorientierten Elemente innerhalb der IRA, und der
Terror eskalierte ständig weiter. Ende der 1990er Jahre fing
London dann an, sich um die Mißstände zu kümmern, die die
Wurzeln des Terrors waren, und sich der legitimen Anliegen
anzunehmen – was völlig unabhängig vom Terror das richtige
Handeln war. Innerhalb weniger Jahre gab es praktisch keinen
Terror mehr. Ich war 1993 in Belfast. Es war ein
Kriegsgebiet. Und ich war im vorigen Herbst wieder da. Man
spürt Spannungen, aber sie haben jetzt einen Grad, der für
einen Besucher kaum zu spüren ist. Man kann wichtige Lehren
aus der Situation dort ziehen. Aber auch ohne diese
Erfahrung sollten wir wissen, daß Gewalt neue Gewalt
erzeugt. Sympathie und Verständnis für berechtigte Sorgen
hingegen können die Leidenschaften beruhigen und Kooperation
und Empathie erzeugen.
Wenn wir also ernsthaft die Plage des Terrorismus beenden
wollen, dann wissen wir, wie das geht. Erstens müssen wir
uns von unserer eigenen Täterrolle verabschieden. Schon das
allein würde beträchtliche Auswirkungen haben. Zweitens
müssen wir uns um die Ursachen kümmern, die typischerweise
den Hintergrund von Konflikten bilden, und wenn die Anliegen
legitim sind, müssen wir uns mit ihnen befassen. Drittens:
Wenn sich ein Terrorakt ereignet, müssen wir ihn wie eine
Straftat behandeln, die Verdächtigen ermitteln und
festnehmen und sie einem ordentlichen Gerichtsverfahren
überantworten. Das funktioniert tatsächlich. Im Gegensatz
dazu erhöhen die heute eingesetzten Techniken die
Terrorgefahr. Beweise gibt es dazu wirklich genug, und sie
decken sich mit weiteren Erkenntnissen.
Es ist ja das nicht der einzige Fall, bei dem gute Ansätze,
die eine ernsthafte Bedrohung verringern könnten,
systematisch mißachtet werden und statt dessen untaugliche
Herangehensweisen zur Anwendung kommen. Der »Krieg gegen die
Drogen« könnte hier als weiteres Beispiel dienen. In über 40
Jahren ist es in diesem Krieg noch nicht einmal gelungen,
den Drogenkonsum auch nur einzuschränken oder den Preis der
Drogen im Straßenverkauf zu verringern. In zahlreichen
Studien, sogar solchen, die die US-Regierung in Auftrag
gegeben hat, wurde nachgewiesen, daß Prävention und Therapie
die bei weitem kostengünstigsten Methoden sind. Aber dieser
Ansatz wird in der Regierungspolitik beständig außer Acht
gelassen und statt dessen lieber auf teure Gewaltmaßnahmen
gesetzt, die keinerlei Einfluß haben auf den Drogenkonsum,
aber beständig jede Menge andere Konsequenzen nach sich
ziehen.
Fälle wie diese lassen nur einen einzigen vernünftigen
Schluß zu, nämlich den, daß die erklärten Ziele nicht die
wirklichen Ziele sind, und wenn wir über letztere etwas
erfahren wollen, dann müssen wir einen auch auf der Ebene
des Rechts üblichen Ansatz wählen: sich auf vorhersehbare
Ereignisse als Beweis für die Absichten stützen. Ich glaube,
daß dieser Ansatz zu sehr plausiblen Schlußfolgerungen
führen kann sowohl für den »Krieg gegen Drogen«, für den
»Krieg gegen den Terror« als auch für viele andere. Das wäre
jedoch eine Aufgabe für einen anderen Tag.
1 Chomsky bezieht sich hier auf den Zusammenbruch der
sozialistischen Staaten in Europa vor 20 Jahren
Teil I erschien in der gestrigen Ausgabe der Jungen Welt
Quelle: http://www.jungewelt.de/2010/03-31/025.php