Volker Perthes, Direktor der
Stiftung Wissenschaft und Politik, referiert im
Februar 2011 auf der Münchener
Sicherheitskonferenz, auch Kriegstreibertreffen
genannt
Foto: Harald Dettenborn (cc by
3.0 de)
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Prächtig war die Feier, die im festlich illuminierten Berliner
Museum für Kommunikation am 17. Oktober über die Bühne ging. Der
deutsche Außenminister war persönlich gekommen, um beim
einleitenden Kolloquium den Veranstaltern ein dickes Lob
auszusprechen. Natürlich seien sie »nicht der einzige Anbieter
politischer Analyse«, erklärte Guido Westerwelle (FDP), aber sie
seien doch »einer der besten«. Die Festrede hielt
Bundestagspräsident Norbert Lammert – laut offiziellem Protokoll
die Nummer zwei im deutschen Staat nach dem Bundespräsidenten.
Gekommen waren unter anderem eine Staatssekretärin aus dem
italienischen Außenministerium, Westerwelles Amtsvorgänger
Frank-Walter Steinmeier (SPD), einflußreiche Persönlichkeiten
etwa aus den USA und aus Indien; die Moderation hatte der
Chefredakteur des ZDF, Peter Frey, übernommen. Die Veranstalter
konnten sich die aufwendige Feier dank finanzkräftiger Sponsoren
leisten, zu denen Daimler, die Allianz und die Deutsche Bank
gehörten. Diese wiederum konnten sich sicher sein, daß sich der
Aufwand langfristig auszahlen würde. Was da prunkvoll begangen
wurde, war kein beliebiges Ereignis, sondern das fünfzigjährige
Jubiläum eines der bedeutendsten deutschen Think-Tanks – der
Stiftung Wissenschaft und Politik.
Das Kanzleramt zahlt
Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ist mit ihren rund
130 festen und bis zu 60 externen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der größte außenpolitische Think-Tank nicht nur der
Bundesrepublik, sondern ganz Europas. Laut Satzung ist es ihre
Aufgabe, »wissenschaftliche Untersuchungen auf den Gebieten der
internationalen Politik sowie der Außen- und Sicherheitspolitik«
durchzuführen, und zwar »mit dem Ziel der Politikberatung«.
Beraten werden nicht nur Abgeordnete, Ministerialbeamte und
Mitglieder der Bundesregierung bis hin zur Kanzlerin, sondern
auch Wirtschaftskreise. Das spiegelt sich im Stiftungsrat wider,
dessen Präsident zur Zeit Hans-Peter Keitel ist, der
gegenwärtige Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie
(BDI). Seine Stellvertreter sind Hans-Ulrich Klose (SPD),
Stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im
Deutschen Bundestag, und Kanzleramtschef Ronald Pofalla. Dem
Vorstand gehören außer ihnen unter anderem der Leiter des
Planungsstabs im Auswärtigen Amt, Staatssekretäre aus den
Ministerien für Verteidigung, Entwicklung, Inneres und Bildung
sowie Vertreter der Deutschen Bank und der Otto GmbH an.
Finanziert wird die SWP größtenteils vom Bundeskanzleramt – mit
steigenden Beträgen. Bekam sie bis 2007 meist eine Summe
zwischen neun und neuneinhalb Millionen Euro, so erhält sie
mittlerweile zwischen elf und zwölf Millionen. »Die politische
Klasse spürt, wie die Erwartungen an Deutschlands Rolle in der
Welt steigen, und wie schwierig es manchmal ist, diesen
nachzukommen«, umschrieb Stiftungsdirektor Volker Perthes im
Oktober im Interview mit dem Tagesspiegel die gesteigerten
weltpolitischen Ambitionen Berlins. Je mehr nach
außenpolitischen Strategien gefragt werde, »umso mehr braucht
man Sparringspartner wie die SWP«.
Die Stiftung verfügt über äußerst enge Verbindungen zur
Wissenschaft, um deren Erkenntnisse für die operative Politik
nutzbar zu machen. Sie hält sich eigens einen Forschungsbeirat,
dem zehn Professorinnen und Professoren aus vier Staaten
angehören, und nicht wenige ihrer Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter sind zugleich an Hochschulen aktiv. Direktor Volker
Perthes etwa lehrt als außerplanmäßiger Professor an der
Berliner Humboldt-Universität und als Honorarprofessor an der
Freien Universität Berlin.
Treibende Kraft bei der SWP-Gründung im Jahr 1962 war der damals
44jährige Karl Ritter. Er entstammte, wie sein späterer
Stiftungskollege Albrecht Zunker 2007 schrieb, »dem
protestantischen deutschen Bildungsbürgertum«, »einer Familie
von Kirchenmännern und Professoren«. Ritter nahm als
Wehrmachtssoldat am Überfall auf Polen und am Krieg gegen die
Sowjetunion teil. 1942 bis 1944 arbeitete er für Reinhard
Gehlens Spionageabteilung »Fremde Heere Ost«. Seine Fähigkeiten
in »Analyse und Auswertung« hätten ihm dort bald Anerkennung
eingebracht, berichtete Zunker in dem Buch »Stiftung
Wissenschaft und Politik (SWP). Entwicklungsgeschichte einer
Institution politikbezogener Forschung«. Er fuhr fort: »In
diesen Monaten im Oberkommando entwickelten sich eine ganze
Reihe von Bekanntschaften und Freundschaften, die für das
weitere Leben Bestand hatten und haben.« Mehrere Mitgründer der
SWP gehörten dazu, auch der spätere Bundespräsident Richard von
Weizsäcker, der bei der deutschen Industrie das Gründungskapital
für die Stiftung einwarb. Ritter habe eine Zeitlang befürchtet,
seine Vergangenheit bei »Fremde Heere Ost« könne bekannt werden
und ihm sowie der Stiftung Schaden zufügen, notierte Zunker. Ein
Weltkriegskamerad habe sich deshalb an den ihm befreundeten
Verlagsleiter des Spiegel gewandt und bei diesem »einen
entsprechenden Sperrvermerk« für etwaige Recherchen in Sachen
Ritter/SWP erwirkt.
BND gibt Starthilfe
Ritter, der im Zweiten Weltkrieg für Gehlens »Fremde Heere Ost«
erfolgreich »ausgewertet« hatte, knüpfte schon bald an seine
alte Arbeit an. Er landete bei Gehlens neuem
Bundesnachrichtendienst (BND), wo er es bis 1959 zum Leiter der
Unterabteilung »Politische Auswertung« brachte. Dann erhielt er
die Genehmigung für ein Sabbatical in den USA, wo er
verschiedene auf dem Feld der Außenpolitik tätige
Forschungsinstitute und Stiftungen kennenlernte. Vertreter des
US-Establishments hätten sich damals beklagt, man müsse in der
Bundesrepublik immer gleich mit Ministerialbeamten sprechen,
hielt Zunker fest; es gebe keine »Gesprächspartner im
voroffiziellen Raum«. Es sei um Fachpersonal gegangen, das keine
Funktion in den Ministerialbürokratien habe und mit dem man bei
Bedarf auch tastende, unverbindliche Sondierungsgespräche ohne
politische Konsequenzen führen könne. Ritter biß an, kehrte
zurück nach Deutschland und trieb, organisatorisch und
finanziell unterstützt von BND-Führungspersonal, die Gründung
der Stiftung Wissenschaft und Politik voran. Diese nahm 1962
ihren Sitz in Haus Eggenberg in Ebenhausen, einem Ortsteil von
Schäftlarn, ein. Um Ebenhausen zu erreichen, muß man München in
südlicher Richtung entlang der Isar verlassen; man durchquert
zunächst Pullach, wo die BND-Zentrale ihren Sitz hat, und kommt
nach wenigen Kilometern in Haus Eggenberg an.
1965, drei Jahre nach der Gründung, schied Ritter aus dem BND
aus. Das war möglich, weil inzwischen Bundesregierung und
Bundestag beschlossen hatten, die SWP offiziell zu übernehmen
und sie aus anderen Etatposten des Kanzleramts, nicht mehr aus
demjenigen des BND, zu finanzieren. Zunächst war die Stiftung
vor allem in Fragen von Abrüstung und Rüstungskontrolle tätig.
Fragen, die in der Zeit der Systemkonfrontation für die
westliche Politik von höchster Bedeutung waren. Im Laufe der
Jahre und Jahrzehnte weitete sie ihren Tätigkeitsradius jedoch
kontinuierlich aus. Im Zuge des Umzugs in ihre heutigen
Räumlichkeiten in Berlin-Wilmersdorf im Jahr 2001 konnte die
Stiftung zwei weitere Institute übernehmen: das »Bundesinstitut
für ostwissenschaftliche und internationale Studien« (BIOst) und
die gegenwartsbezogene Abteilung des »Südost-Instituts« (SOI).
Die Stiftung expandiert
Kämpfer der Freien Syrischen
Armee (FSA), hier bei Homs, sind Teil des
SWP-Projekts »The Day After« Foto: Reuters
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Das BIOst war 1961 in Köln unter der Bezeichnung »Bundesinstitut
zur Erforschung des Marxismus-Leninismus (Institut für
Sowjetologie)« gegründet worden. 1966 wurde sein Name in
»Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale
Studien« geändert. An den Planungen war der langjährige
Osteuropa-Spezialist Hans Koch maßgeblich beteiligt. Koch hatte
schon im Ersten Weltkrieg Kontakte zu ukrainischen Milizen
geknüpft, ging 1934 als Institutsleiter an die Universität
Königsberg und kümmerte sich im Zweiten Weltkrieg zunächst
erneut um die Kontakte zu ukrainischen Nationalisten, bis er
schließlich zum »Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete«
wechselte. Koch habe schon 1939 »betont, daß eigene
Institutionen notwendig seien, um dem Kommunismus mit
wissenschaftlichen Mitteln entgegenzutreten«, berichtet die
Historikerin Corinna Unger in ihrer ausführlichen Untersuchung
über die bundesdeutsche Ostforschung (Ostforschung in
Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die
Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1945–1975, Stuttgart 2007).
»Diese Notwendigkeit« habe »seiner und der Überzeugung vieler
Kollegen zufolge nach Kriegsende« weiterbestanden – sogar
»dringlicher denn je«.
Die deutsche Regierung nahm sich in den 1950er Jahren des
Anliegens an; das führte 1961 zur Gründung des Bundesinstituts.
Aktiv beteiligt war ein zweiter Exmitarbeiter des
»Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete«, Gerhard von
Mende, der in dieser Funktion an einem Nachfolgetreffen der
Wannsee-Konferenz teilgenommen hatte. Mende war vor allem für
sein Vorhaben bekannt, die einzelnen Nationalitäten der
Sowjetunion gegen Moskau aufzustacheln. Koch, der ursprünglich
Gründungsdirektor des Bundesinstituts hätte werden sollen, starb
1959; Mende hingegen wurde tatsächlich in das Direktorium
berufen.
Die Kontinuitätslinien des Südost-Instituts (SOI) reichen noch
weiter zurück. Es wurde 1930 in München gegründet, »zur
Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten«, wie
es heute beim Nachfolger seiner zweiten, nicht von der SWP
übernommenen Abteilung heißt, dem »Institut für Ost- und
Südosteuropaforschung« (IOS) in Regensburg. Das SOI wurde 1943
der Abteilung VI G des Reichssicherheitshauptamtes unterstellt.
Bereits 1941 hatte Geschäftsführer Fritz Valjavec ein
Sonderkommando nach Südosteuropa begleitet; vermutlich war er
dort in den Massenmord an den Jüdinnen und Juden involviert.
Dessen ungeachtet konnte Valjavec 1951 die Neugründung des SOI
durchsetzen und dort 1955 ganz offiziell das Amt des Direktors
übernehmen. Er starb 1960. Die Tradition der deutschen
Südosteuropa-Politik blieb im SOI gewahrt.
Mit ihrem Umzug in die Hauptstadt Anfang 2001 und der Übernahme
des SOI und des BIOst hat die Stiftung, die einst mit Hilfe des
BND gegründet wurde, um Abrüstung und Rüstungskontrolle zu
bearbeiten, sich endgültig zu einem Think-Tank entwickelt –
bereit, das deutsche Weltmachtstreben in jeder Hinsicht
umfassend zu begleiten.
Draht zur Bundeswehr
Die Stiftung verfügt heute über acht Forschungsgruppen, die sich
mit allen Weltgegenden befassen: mit der EU und ihrer
Integration, mit den EU-Außenbeziehungen, mit dem amerikanischen
Kontinent, mit Rußland und der GUS, mit Nah- und Mittelost plus
Afrika, mit Asien, ganz pauschal mit »globalen Fragen« und, last
but not least, mit »Sicherheitspolitik«. Vor allem über die
Forschungsgruppe Sicherheitspolitik unterhält die SWP enge
Beziehungen in Bundeswehrkreise. In ihr arbeiten ein
Oberstleutnant i.G., ein ehemaliger Leiter des Fachbereichs
Sozialwissenschaften an der Führungsakademie der Bundeswehr in
Hamburg, ein früherer Abteilungsleiter im Zentrum für
Verifikationsaufgaben der Bundeswehr, das in der
Rüstungskontrolle tätig ist, aber auch ein einstiger Mitarbeiter
des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an
der Universität Hamburg, der zwischenzeitlich bei der Ständigen
Vertretung Deutschlands bei der EU wirkte – in der Abteilung
Militärpolitik. Ein Major i.G. arbeitet zudem in der
Forschungsgruppe Rußland/GUS; sein Forschungsgebiet: Militär-
und Sicherheitspolitik der Russischen Föderation.
Politikfelder, die für die Berliner Außenpolitik eine besondere
Rolle spielen, werden von der Stiftung in speziellen Projekten
bearbeitet. Da wären zunächst einmal die nach wie vor wichtigen
transatlantischen Beziehungen. Die Volkswirtschaften der
Bundesrepublik sowie der USA sind außerordentlich eng
verflochten, nicht nur beim Handel, vor allem bei den
Investitionen; außerdem ist die NATO für Berlin nach wie vor ein
Instrument, auf das man nicht verzichten kann – jedenfalls
solange die EU keine vergleichbar schlagkräftige Militärmacht
besitzt. Die SWP betreibt ein Projekt mit dem Namen
»Transatlantische Risikogovernance«, das den »Umgang mit
systemischen Risiken in den USA und der EU« abstimmen soll: Wie
geht man mit wirtschaftlichen und finanziellen Risiken um, die
etwa die Euro-Krise hervorbringt? Welchen Abgleich kann man in
der transatlantischen Rohstoffkonkurrenz anpeilen? Und wie kann
man gemeinsam Angriffen auf die Infrastruktur oder
Cyber-Attacken entgegenwirken?
Pazifisches Jahrhundert
Die SWP wäre eine schlechte Beraterin, hätte sie nicht schon
längst auf die großen weltpolitischen Umbrüche reagiert, die
sich gegenwärtig vollziehen. Der wichtigste davon ist sicherlich
der Aufstieg Chinas und die Ankündigung der USA, sich in Zukunft
stärker auf Asien als auf die Kooperation mit Europa zu
konzentrieren. US-Außenministerin Hillary Clinton hat vor etwas
über einem Jahr offiziell »Amerikas pazifisches Jahrhundert«
ausgerufen. Die Stiftung führt jährlich eine »Berlin Conference
on Asian Security« durch, bei denen »der Austausch von
Informationen und Expertise zu Sicherheitsfragen im
asiatisch-pazifischen Raum« ermöglicht wird. Daran nehmen
Expertinnen und Experten aus Asien, Amerika und Europa teil.
Gesprochen wird etwa über die amerikanisch-chinesische
Rivalität, über die japanischen Reaktionen auf den Aufstieg
Chinas und über den Kampf des Westens gegen Nordkorea.
Diskutiert wird natürlich auch über die Perspektiven der EU in
Ost- und Südostasien, da diese auch im »Pazifischen Jahrhundert«
im Zentrum des Weltgeschehens stehen will.
Eine Option, die sich die Berliner Außenpolitik in den aktuellen
Umbrüchen zu bewahren sucht, ist die Orientierung auf ein
multilaterales Konzept, das davon ausgeht, neben den USA und
China könnten sich womöglich noch weitere Mächte und damit
potentielle Verbündete in der Weltpolitik etablieren – Rußland
etwa, Indien oder Brasilien, auf regionaler Ebene eventuell auch
Südafrika oder Iran. Die SWP führt jährlich seit 1993 einen
»Streitkräftedialog« mit jeweils zwölf bis 14 Offizieren aus
Rußland oder aus der Ukraine durch; damit will sie Zugänge »zu
hochrangigen, wenn möglich noch jungen militärischen Führern der
Streitkräfte« herstellen und insgesamt die »deutsch-russischen
und deutsch-ukrainischen Beziehungen auf militärischer Ebene«
vertiefen.
Die SWP betreibt einen »GIBSA Quadrilogue«, zu dem sich jährlich
Think-Tanks aus »Germany, India, Brazil and South Africa«
(GIBSA) zur Strategiedebatte treffen – »vier Staaten, die
mehrfach als regionale Führungsmächte (...) in ihrer jeweiligen
Region bezeichnet wurden«, schreibt die Stiftung. Einmal
jährlich organisiert die Einrichtung zudem gemeinsam mit dem
Teheraner »Institute for Political and International Studies«
(IPIS) den »Deutsch-iranischen Dialog«. SWP-Direktor Perthes und
sein Vorgänger Christoph Bertram haben sich mehrfach für eine
kooperative Einbindung Irans ausgesprochen; das Land habe, heißt
es, das Zeug zur regionalen Vormacht, die man zwecks Mehrung des
eigenen Einflusses zum Verbündeten aufbauen könne.
The Day After
Besondere Bedeutung hat gegenwärtig wohl das Projekt zum
»Elitenwandel« in der arabischen Welt, das die SWP dieses Jahr
gestartet hat und bis 2015 fortführen will. Die arabischen
Revolten haben Entwicklungen angestoßen, deren Ergebnisse nach
wie vor nur schwer abzuschätzen sind. Was resultiert denn zum
Beispiel aus dem Sturz von Ben Ali oder Mubarak – ein simpler
Regimewechsel, oder kommt es auf Dauer »zu einem umfassenden
Elitenwechsel«? »Handelt es sich lediglich um eine Rotation
innerhalb der existierenden politischen Eliten oder beobachten
wir die Einbindung neuer Akteure?« fragt die SWP; und falls es
sich um »neue Akteure« handeln sollte, »wie verhalten sie sich
zu den bisherigen, nach wie vor in den Machtstrukturen
vertretenen Eliten?« Die Fragen sind wichtig, will man den
eigenen Einfluß in der arabischen Welt stärken, und tatsächlich
verfolgt der Berliner Think-Tank kein geringeres Ziel als dieses
- solide analytische Vorfeldarbeit, damit die deutsche
Außenpolitik in Nordafrika und in Nah- und Mittelost ihre
Machtstellung ausbauen kann.
Das bekannteste Projekt der Stiftung, »The Day After«, dient
dazu, die syrische Exilopposition zu organisieren und einen
Fahrplan für ein Syrien nach dem Sturz Bashar al Assads zu
entwerfen. In die Wege geleitet wurde »The Day After« schon
Mitte 2011; dabei kooperierte die SWP mit dem United States
Institute of Peace (USIP). Von Januar bis Juni 2012 kamen in
regelmäßigen Abständen rund 45 syrische Exiloppositionelle in
Berlin zusammen, um unter Anleitung deutscher, US-amerikanischer
und britischer Experten Nachkriegspläne für das Land zu
entwickeln. Ein Papier, das Vorschläge dazu enthielt, wurde Ende
August in Berlin präsentiert. Die Bundesregierung legte dabei
Wert auf die Feststellung, sie selbst habe sich zu keinem
Zeitpunkt eingemischt. Die Aussage bestätigt, wie wichtig
Apparate wie die SWP sein können – Einrichtungen, die einen
formalen Abstand zur Regierung haben und damit Aktivitäten
übernehmen können, die ausgeführt von offizieller Seite allzu
provozierend wirken könnten. Genau diese Funktion war es, die
Anfang der 1960er Jahre US-Experten wie Henry Kissinger dem
bundesdeutschen Sabbatical-Gast Karl Ritter nahezubringen
versuchten – mit Erfolg, wie man heute sieht.
Die Entwicklung, die die SWP durchmacht, ist in gewisser Weise
typisch für das bundesdeutsche Establishment. Eindrücklich hat
den Gang der Dinge Mitte 2009 Guido Steinberg beschrieben, der
in den Jahren von 2002 bis 2005 im Referat Internationaler
Terrorismus im Bundeskanzleramt tätig war, dieses dann verließ
und als Mittelostexperte zur SWP wechselte. »Durch die deutsche
Präsenz in Krisenregionen und die oft schmerzlichen Erfahrungen
dort werden wir gezwungen, uns intensiv mit diesen Ländern zu
befassen«, erläuterte Steinberg. »Mehr junge Leute befassen sich
mit Weltregionen, die bisher wenig Interesse gefunden haben.
Neue Studiengänge für Internationale Beziehungen werden
eingerichtet.« Das alles habe tiefgreifende soziale Folgen. »In
Deutschland entstehen neue politische und militärische Eliten«,
die »in Zukunft die deutsche Politik mitprägen und ihr etwas von
ihrer heutigen Provinzialität nehmen werden«, sagte der
SWP-Experte voraus. Eliten, für die das deutsche
Weltmachtstreben eine simple Tatsache ist und die für dieses
Ziel den gesamten Globus in den Blick nehmen. »Wir erleben eine
Entwicklung«, so Steinberg, »wie sie im Grunde von den
Kolonialmächten im 19. Jahrhundert durchgemacht wurde.«
Jörg
Kronauer ist Sozialwissenschaftler, freier Journalist und
Redakteur bei german-foreign-policy.com. Am 12. November schrieb
er an dieser Stelle über die Inbetriebnahme eines zweiten
Strangs der »Ostseepipeline«.
Quelle: Junge Welt:
http://www.jungewelt.de/2012/12-20/016.php