17.02.2009 / Kapital & Arbeit / Seite 9
Rezession mit Verspätung
Gebremstes Wachstum, Sorge um die Zukunft, erste
Massenentlassungen: Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise
hat auch Lateinamerika angesteckt
Benjamin Beutler
Die Schwächsten trifft es bekanntermaßen zuerst. »Alle haben
2008 sehr viel Geld verdient, so daß es einfach nicht wahr sein
kann, daß nur einen Monat nach dem Zusammenbruch der US-Banken
damit begonnen wurde, die Arbeiter rauszu werfen«, empörte sich
Brasiliens Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva jüngst über
die seit Dezember auffällig stark gestiegene Arbeitslosigkeit in
seinem Land. »Jetzt, in diesen schwierigen Zeiten, ist es doch
an den Unternehmern, daß sie ihren Teil erfüllen«, wundert sich
der Präsident über die fehlende soziale Verantwortung der
Privatwirtschaft. Tatsächlich hat das Staatsoberhaupt der
größten und stärksten Volkswirtschaft Südamerikas allen Grund
zur Sorge. Allein in den vergangenen zwei Monaten wurden in dem
186-Millionen-Einwohner-Land über 600000 Arbeiter vor die
Fabriktore gesetzt. Dementsprechend schlug Ende vergangener
Woche auch der brasilianische Wirtschaftsminister Guido Mantega
Alarm, indem er vor einem »Exzeß der Vorsicht« warnte.
Schließlich hänge das Wirtschaftswachstum vor allem vom Willen
der Firmenchefs ab. »Wenn die Unternehmer sich für eine
Verschiebung ihrer Investitionen entscheiden, auf ihrem Geld
sitzen bleiben, und der Konsument darum nicht einkaufen geht,
dann werden wir allein deshalb die Wirtschaft ausbremsen«,
erklärte Mantega den Brasilianern grundlegende Zusammenhänge,
die nicht nur in Brasilien den Eintritt in eine erste
Rezessionsphase befürchten lassen.
Wertloses Lob
Bisher sei Südamerika von der Finanzkrise wenig betroffen,
wiegelte der Internationale Währungsfonds (IWF) zuletzt ab und
sah wenig negative Auswirkungen der globaler Rezession. Die
Wirtschaft des Kontinents ist auch heute noch größtenteils auf
Agrar- und Rohstoffexport orientiert. Lateinamerika werde »trotz
des heftigen weltweiten Wirtschaftsabschwungs weiter wachsen«,
zeigte sich der IWF-Bereichsleiter für Lateinamerika, Nicolás
Eyzaguirre, vergangene Woche um Beruhigung angesichts
verstärkter Rezessionsbefürchtungen bemüht. Zwar hatte IWF-Chef
Dominique Strauss-Kahn noch wenige Tage zuvor festgestellt, daß
2009 das »schlimmste Jahr für die Weltwirtschaft« seit 60 Jahren
sei. Bei den Staaten von Karibik bis Feuerland gehe man aber
weiterhin von einem Wirtschaftswachstum »um die ein Prozent«
aus. 2008 lag dieses noch bei rund 4,5 Prozent. Die Region sei
»heute weitaus stabiler als noch in der Vergangenheit«. Faktoren
wie erhöhte Steuereinnahmen, geringe Verschuldung und stabile
Finanzsysteme sowie die »Flexibilität in der Geld- und
Wechselkurspolitik« seien besonders lobenswert, beschrieb
Eyzaguirre die bisherige Krisenresistenz von Ländern wie
Brasilien, Argentinien, Chile und Venezuela. »Früher hat sich
Lateinamerika eine schwere Grippe geholt, wenn die Welt geniest
hat – heute aber sieht es so aus, als bekämen wir nur eine
leichte Erkältung«, umschreibt der argentinische Ökonom Gabriel
Martini den im Vergleich zu den Krisen von 1983, 1990, 1995,
1999 und 2002 vorerst ausgebliebenen Niedergang. In der Tat
haben Linksregierungen um Lula, Fernández de Kirchner
(Argentinien), Bachelet (Chile) und Chávez (Venezuela) in Zeiten
hoher Weltmarktpreise für Rohstoffe wie Öl und Metalle für
kritische Momente vorgesorgt. Auch die nur schwache Verflechtung
südamerikanischer Banken mit der in Europa und den USA
geplatzten Spekulationsblase hat fatale Auswirkungen des
Bankencrashs vorläufig verhindert. Zudem erweist sich die
Weigerung, an der Bildung einer von den USA abhängigen
gesamtamerikanischen Handelszone FTAA teilzunehmen, heute als
vorteilhaft.
Krise nimmt Fahrt auf
Auch wenn Lateinamerika die erste Welle des Finanztsunamis
abgewehrt hat – die Rezession wird sich zweifelsohne auf die
Länder des Südens auswirken. Eine jüngste Stellungnahme der
Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) für den Deutschen Bundestag
zeichnet ein schwarzes Bild. »Die realwirtschaftlichen Wirkungen
der Finanzkrise treffen die Entwicklungs- und Schwellenländer
erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung«, man beobachte
»einige Vorboten«, so das Papier. Derzeit würden beispielsweise
die Frachtraten im internationalen Seeverkehr aufgrund sinkender
Tonnage-Nachfrage drastisch sinken. Das Austrocknen des
westlichen Finanzsektors erschwere den armen Ländern notwendigen
Zugang zu Krediten. Bei längerfristigem Krisenverlauf bestünde
die Gefahr sinkender Beschäftigung und Einkommen, was wiederum
zu Steuerausfällen und knappen Staatshaushalten führen könne.
Vom »abgeschwächten Wirtschaftswachstum« und »rückläufigen
Sozialausgaben« seien letzten Endes die Armen am schwersten
getroffen. »Good News« zur Unterbrechung der »Abwärtsspirale«
seien nicht in Sicht, der »Abwärtstrend« gehe weiter, so die
KfW. Am Ende gilt wohl das Wort des Philosophen Jürgen Habermas:
»Nun wird die Masse derer, die ohnehin nicht zu den
Globalisierungsgewinnern gehören, für die realwirtschaftlichen
Folgen einer vorhersehbaren Funktionsstörung des Finanzsystems
noch einmal zur Kasse gebeten. Und dies nicht wie die
Aktienbesitzer in Geldwerten, sondern in der harten Währung
ihrer alltäglichen Existenz.«